Einblicke

In ihrem Buch "krankenhausreif" schreibt die Assistenzärztin Johanna Eifert über ihre Erlebnisse im Krankenhausalltag. Entstanden war die Idee zu dem Buch aus vielen schweren Situationen und Momenten während ihrer Tätigkeit in der Notaufnahme, insbesondere während der Hochphase von COVID-19. Wie eine Therapie habe sich das Aufschreiben von dort Erlebtem für sie angefühlt und so habe sie sich die mentale Last von der Seele geschrieben, erklärt die Autorin.

Johanna Eifert - Foto: Frank Schäfer

„krankenhausreif“ von Johanna Eifert, 2. Auflage Juli 2021; Verlag & Druck: tredition GmbH Hamburg; ISBN Paperback: 978-3-347-28415-9 (15,99 €); ISBN Hardcover: 978-3-347-28416-6 (23,99 €)

Auszug aus "krankenhausreif" von Johanna Eifert:

Ein etwa Mitte 80-jähriger Patient wird mit eindeutiger Schlaganfallsymptomatik in schwerster Betroffenheit in die Notaufnahme gebracht. Das Zeitintervall ist unklar, er wurde von den Angehörigen eingenässt in seiner Wohnung liegend vorgefunden, nachdem er auf ein zuvor eingehendes Telefonat nicht geantwortet hatte, ohne dass bekannt ist, wie lange er schon derart gelegen hatte. Er kann durch Mimik gerade noch ausreichend kommunizieren, um mir zu verstehen zu geben, dass er keine Intensivtherapie möchte. Die zerebrale Bildgebung gibt Hinweise auf eine bereits ältere Durchblutungsminderung. Ich verlege ihn nicht, im Wissen, dass wir ihn hier nur symptomatisch, aber nicht ursächlich behandeln können. Vorher war er noch selbstständig lebend, mit altersgemäßen Wehwehchen, aber keinem allzu einschränkenden Defizit, wie ich später erfahre. Außerdem, dass zum Zeitpunkt seines Auffindens der Fernseher noch lief, der Fernseher, der eine Zeitschaltuhr hat, eine Zeitschaltuhr, die das Symptomintervall doch abschätzbar macht, machen hätte können, hätte, hätte. Auf der Station betreue ich ihn weiter, zu meinem anfänglichen Leidwesen aufgrund meines vermeintlichen Versagens, und bin tagtäglich mit der Verschlech-terung seines Zustandes konfrontiert. Was gleichzeitig Konfrontation mit der Frage bedeutet, ob ich ihn mit einer Verlegung in eine Fachklinik hätte retten können, ob er in dem verbleibenden Zustand hätte gerettet werden wollen, hätte, hätte. Ich informiere die Angehörigen über den baldig kommenden Tod und ich bin bei ihm, als er stirbt. Die Hinterbliebenen sind keinesfalls vorwurfsvoll. Die Vorwürfe mache ich mir selbst. Es ist schwer, Menschen sterben zu sehen und zu meinen, dafür mitverantwortlich zu sein.

Exitus letalis, schreibe ich in den Brief und weine um einen Menschen, den ich habe gehen sehen müssen, ohne dass ich ihn jemals habe gehen sehen können.

Man mag denken, wir seien Lebensretter. Manchmal sind wir jedoch bloß Lebensverlängerer, ob nötig oder sinnvoll, sei dahingestellt und bleibt ein für alle Mal eine schwierig zu beantwortende Frage. Es steckt so viel Ethik in diesem Beruf. Manches Mal existieren wegweisende Patientenverfügungen oder Angehörige, die den letzten Willen des Patienten vertreten. Letztlich bestimmt jedoch auch die medizinische Einschätzung, wohin der weitere Weg im Krankenhaus den Patienten führt. Ab wann ist es erlaubt, den hügeligen Weg nicht mehr weiter zu ebnen? Wann ist es absehbar, dass der Patient es aus eigener Kraft nicht mehr schafft, den Berg zu erklimmen? Zu welcher Stunde stelle ich einen Herzschrittmacher aus, trotz dass das Herz nicht mehr Schritt hält? Wann ist ein Wechsel der Antibiose nicht mehr zielführend? Ab welchem Zeitpunkt erfülle ich dem nach Wasser dürstenden, völlig überwässerten Patienten seinen Willen, im Wissen darüber, dass dies sein letzter Wunsch sein könnte? Die Antworten auf all diese Fragen lernt man nicht im Studium. Dafür gibt es keine Leitlinien, keinen roten Faden, der durch das eintönige Grau führt, keine Hilfen, die den Weg zu einem eindeutigen „Richtig“ oder „Falsch“ weisen. Jede Entscheidung entspricht einem individuellen Abwägen und die Antwort auf all diese Fragen lernt man vermutlich erst mit der Erfahrung.

Und wenn selbst diese erfahrenen Oberärzte rückblickend von Entscheidungen berichten, die sie zum Verzweifeln brachten, die vielleicht falsch, auf jeden Fall tragisch waren, aus denen sie fürs Leben lernten – dann merkt man, dass jeder mal am Anfang anfängt, dass die Zeit großes Potential birgt, und dass Menschen Fehler machen, gar machen dürfen, machen müssen. Auch Ärzte sind nur Menschen und auch in der Medizin ist niemand perfekt.

Und ich wünsche mir in einem kindlichen, unprofessionellen Verlangen, dass eben jener Patient auf seiner weichen, weißen Wolke, in seinem perfekten, babyblauen Himmel sitzt, eines erfüllten Lebens mächtig, seiner Selbstbestimmtheit bis zum bitteren Schluss fähig, und dass eben jener Patient nicht wehmütig auf mich hinabschaut, sondern vorwurfslos und voller Stolz, im Wissen darüber, mich durch sein Lebensende um diese Erfahrung bereichert zu haben.

 

Der Weiterbildungsverbund bedankt sich herzlich bei Frau Eifert für die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Textauszuges.